Neue Sphären.

Meine Damen und Herren,

wenn etwas passiert, warum zur Hölle dann immer gleich alles auf einmal? Ist es nicht genug eh schon zu leiden. Zugeben zu müssen, dass es einem NICHT gut geht? Wie kann es möglich sein, dass man morgens aufsteht, beladen mit Sorgen und Problemen und abends schlafen geht, mit NOCH MEHR Sorgen und Problemen?

 

Meine Gesundheit ist am Arsch, meine Oma ist tot, mein Freund ist weg und mein Auto ist Schrott. Was kommt dann morgen? Verliere ich meine Arbeit? Gibt mein Handy den Geist auf? Breche ich mir die Hand? Muss ich eingewiesen werden? Ernhsthaft jetzt, kann bitte mal jemand kurz auf die Pause-Taste drücken? Und ich bin so ehrlich und gebe es zu: ich hab absolut keinen Bock mehr darauf. Ich möchte meine neuen Inline-Skates anziehen und einfach davonfahren, so weit und so lange bis es mir wieder gut geht, mein Auto repariert ist und mein Leben wieder ganz.

 

Manchmal wollen wir flüchten. In eine andere Dimension, in eine andere Zeit, in ein anderes Leben. In neue Sphären. An einen Ort, an dem es uns einfach gut geht. An einen Ort, an dem wir keine Schlaftabletten brauchen um einzuschlafen, unser Rücken nicht so wehtut dass wir ihn am liebsten wegschmeissen würden. Wir wollen doch einfach nur mal ein wenig Ruhe. Zufriedenheit. Einen kurzen Moment die Augen schließen und lächeln, weil uns danach ist. Ich habe nun seit vier Tagen weder den Drang verspürt zu lächeln, zu essen oder zu schlafen. Nicht weil ich hysterisch bin und panisch, weil ich einsam bin und allein. Ich habe schlichtweg Angst davor, was danach passiert. Nachdem ich gelächelt habe. Nachdem ich gegessen habe. Nachdem ich geschlafen habe. Muss ich wieder weinen? Muss ich wieder alles erbrechen? Muss ich wirklich wieder in diesem Leben aufwachen?

 

Es geht nicht immer darum glücklich zu sein. Es geht nicht immer darum, dass alles gut läuft. Es geht darum sich eine Sphäre zu schaffen, in der man über all das drüberstehen kann. In der die Egal-Mentalität herrscht, in die man flüchten kann wenn alles zu viel wird. Vielleicht ist es ein Playstation-Spiel. Vielleicht ist es ein Buch. Vielleicht ist es Sport. Vielleicht ist es Musik. Es ist in jedem Fall etwas, wo keine Fragen gestellt werden. Wo man nicht über irgendwas nachdenken muss. Wo man bleiben kann, bis man sich besser fühlt. Ein Zeitfenster. Eine neue Aufgabe. Ein Ort, nur für sich selbst.

 

Also dann mal los. Aufbruchstimmung. Aufbruch in eine neue Sphäre. Weg von dieser Welt.

 

 

 

Nachtrag zu Tag 2: Ich werde mir niemals selbst verzeihen können. Aber ich kann zumindest versuchen, mich mit dem Leben wieder zu versöhnen.

 

 

Das verflixte Nachher.

Nun... es liegt doch irgendwie in der menschlichen Natur, dass wir immer erst etwas zu schätzen wissen, wenn es weg ist. Wir merken erst wie sehr wir lieben, wenn der Mensch gegangen ist. Wir merken erst, wie sehr wir brauchen, wenn keiner mehr da ist, an dem wir uns festhalten können. Wir merken erst wie sehr wir uns sorgen, wenn keiner mehr da ist, um den wir uns sorgen können. Und natürlich wissen wir immer erst nachher, wie bescheuert wir waren. Wie schrecklich engstirnig. Dass unser Tunnelblick uns jegliche Möglichkeit gegeben hat, auch mal nach rechts oder links zu sehen. Wir wissen immer erst nachher, was man tun hätte können. Was man sagen, fragen, machen hätte sollen. War es wirklich so schlimm, sich sonntags eine Stunde Zeit zu nehmen und sich mit der Großmutter zu beschäftigen? War es ehrlich so dramatisch und unpassend, sich hinzusetzen, einen Kaffee zu trinken und zu reden? Mensch ärgere dich nicht zu spielen und dabei zu lachen? War es ehrlich so schwer, einfach mal zu sagen: nimm dir eine Auszeit, du brauchst jetzt Ruhe. War es echt so unmöglich einfach mal zu fragen: "Wie kann ich dir helfen?".

 

Meine Oma ist gestorben. Die letzten drei Tage ihres Lebens habe ich an ihrem Krankenbett gewacht und ihre Hand gehalten. Und das einzige, dass ich dabei denken konnte war: als sie mich vor ein paar Tagen noch fragte, ob ich mich denn zu ihr setzen könnte, hab ich sie abgefertigt mit einer blöden Antwort und sie einfach allein gelassen. Hätte es mich denn umgebracht, mich einfach zu ihr zu setzen und fernzuschauen?

Mein Freund hat mich verlassen. Und als ich stundenlang mein ganzes Leben aus seiner Wohnung geräumt habe, hab ich ständig nur daran gedacht, ob es denn so schlimm gewesen wäre, ihn einfach mal nach seinen Bedürfnissen zu fragen. Ob es ehrlich gegen meine Natur gegangen wäre, einfach einmal nicht danach zu handeln was ICH richtig finde, sondern jemand anders. Jemand, der ohnehin keine gute Zeit hat, Stress, Probleme, Sorgen. Wieso können wir nicht manchmal schon vorher wissen was RICHTIG ist? Geht es wirklich immer darum zu leiden und nur aus dem Leid lernen zu können, wie die Welt funktioniert? Ist das Leid wirklich das einzige, das uns vorwärts bringen kann?

 

Mir ist in meinem Leben schon viel Leid widerfahren. Und eigentlich ging es fast immer darum, dass ich verlassen wurde. Egal von wem. Von Männern, von Vätern, von Freunden... Und jedesmal sind mit ihnen meine Wünsche und Träume gegangen. Jedesmal hab ich zwar etwas gelernt, aber immer nur auf Kosten meiner selbst. Wieso kann ich nicht auch davon träumen, eines Tages ein superschnelles Rennauto zu besitzen oder ein Haus zu bauen? Solche Träume wären komplett unabhängig von irgend jemand anderem. Es würde dabei nur um mich gehen. Stattdessen träume ich von gemeinsamen Reisen, von sonnigen Tagen am Strand und davon, endlich ein Zuhause zu schaffen - gemeinsam. Und vielleicht eben gerade weil ich irgendwie ständig verlassen werde, träume ich davon jemanden zu haben, an dem ich mich festhalten kann. Der nicht geht. Der mir seinen Wohnungsschlüssel gibt und sagt: fühl dich wie zu Hause. Damit ich ein Ziel haben kann. Einen Ort, von dem ich nicht andauernd wegfahre, sondern ein Ort, an dem ich ankomme.

 

Ich glaube, manchmal geht es genau darum. Man will ankommen. Man will nicht mehr ständig unterwegs sein. Man möchte, egal wo man ist, wissen, dass man etwas hat, das man vermissen kann. Schade nur, dass einem immer erst klar wird wie sehr man etwas vermisst, wenn man es nicht mehr hat. Kein Ort mehr zum Ankommen, keinen Menschen mehr zum Festhalten, keine Oma mehr zum Mensch ärgere dich nicht spielen.

 

Ja, manchmal ist das Leben wirklich scheisse. Und DAS ist uns sogar klar, obwohl es uns nicht verlassen hat.

 

 

 

Tag 2. Kann ich mir jemals selbst verzeihen?

Es ist wie es ist.

Es ist so wie es ist. Entscheidungen wurden getroffen, Dinge sind passiert und gesagt worden. Es war nicht alles okay und nicht alles gut. Wenn man emotional ist, reagiert man manchmal falsch. Aber man hat die Zeit, darüber nachzudenken, zu reflektieren und für sich selbst eine Entscheidung zu treffen.

 

Meine Entscheidung lautet: ich nehme mir Zeit. Ich gebe Zeit. Ich überstehe den Tag, atme weiter und hoffe auf Besserung. Ich vermisse, aber ich versinke nicht im Selbstmitleid. Ein Tag zum Weinen ist okay. Eine Woche ist zuviel. Und vielleicht hat man ja doch die Möglichkeit zu reden. Ein Ende zu schaffen, das angemessen und nicht hysterisch und komplett im Wahn passiert. Den Knoten zu lösen und in die eine oder andere Richtung gehen.

 

Aber erstmal Zeit. Und atmen. Und etwas für sich selbst tun. Und versuchen, auch mal an etwas anderes zu denken. Sich keine Fragen mehr stellen, weil man die Antworten ja doch nie bekommen wird. Nicht darüber nachdenken, ob man vermisst wird. Ob jemand an einen denkt. Ganz nüchtern betrachten, wie es nunmal ist. Und ganz nüchtern betrachten, wie es werden kann. Es werden auch wieder gute Tage kommen. Und vielleicht hat man ja doch nur wenigstens einmal im Leben Glück.

 

 

 

Tag 1. Ich habe verstanden.

Ein Leben nach den Tränen.

Der Vorteil daran, wenn man einen ganzen Tag zum Weinen hat ist, dass man auch einen ganzen, langen Tag zum Nachdenken hat. Man kann in Ruhe darüber sinnieren, wer man ist, wer man sein will, wo man hin will, was einem fehlt und wie es so weit kommen konnte. Man kann darüber nachdenken, ob man vielleicht öfter nachdenken sollte. Oder weinen. Oder beides. So ein Tag gibt einem die Möglichkeit sich vorzustellen, was Glück überhaupt für einen bedeutet und sich Ziele setzen, um dieses zu erreichen. So ein Tag zum Weinen ist eigentlich gar nicht mal so schlecht. Bis auf die unendliche Traurigkeit natürlich. Und das grenzenlose Leid.

Natürlich geht es einem danach nicht plötzlich wieder gut. Eigentlich hat sich durch das Weinen ja auch nichts geändert. Es ist kein Durchleben der Trauerphasen in Lichtgeschwindigkeit, oder das plötzliche Erwachen aus einem bösen Traum. Es ist ein Tag nur für sich allein. Für sich und tausende von Tränen, die vielleicht schon viel eher vergossen werden sollten.

 

Was wir oft vergessen, ist die Tatsache, dass wenn etwas endet, zugleich etwas Neues beginnt. Natürlich wollen wir das Neue nicht haben Wir wollen verdammt nochmal das Alte zurück! Das alles, weswegen wir weinen! Aber irgendwann, wenn die Tränen versiegen und der Körper es einfach nicht mehr schafft neue zu produzieren, wird einem klar, dass danach etwas kommen muss. Nach den Tränen. Es muss ein Leben nach den Tränen geben. Vorerst wird dieses Leben nicht schön sein. Es wird beschissen sein. Einsam. Zerissen. Schmerzhaft. Traurig. Es wird sehnsüchtig sein. Sehnsüchtig nach dem davor. Nach Glück, Liebe und Zuversicht. Es wird dunkel sein, egal, wie hell die Sonne auch strahlen mag.

 

Nach den Tränen eröffnet sich ein Tal, durch das wir wandern müssen. Schwerfällig. Langsam. Unbeholfen. Vielleicht haben wir Angst. Und doch dürfen wir nicht aufhören daran zu glauben, dass nach dem Tal etwas Schönes auf uns wartet. Es wird niemals wieder ein davor geben. Aber es kann etwas entstehen, dass so viel besser ist als davor. Wir können Dinge finden, die uns so sehr gefehlt haben. Die Leidenschaft zum Sport, das völlige k.o. sein nach einer durchfeierten Nacht. Vielleicht wagen wir uns auf neues Terrain. Vielleicht entdecken wir etwas für uns, von dem wir niemals glaubten, dass es uns gefallen könnte. Vielleicht finden wir uns selbst wieder in einem völlig neuem Sein. Eine Art zu Leben, an die wir nie gedacht haben. Wichtig ist, dass uns klar sein muss, dass es dauert. Dass man Zeit braucht. Dass es vorerst einfach nur mal darum geht, irgendwie den Tag zu überstehen. Egal wie einsam, allein, furchteinflößend und dunkel er auch sein mag.

 

 

 

Tag 0.