Der gesunde Schmerz.

In der Medizin gibt es ein Krankheitsbild mit dem faszinierenden Namen hereditäre sensorische und autonome Neuropathie Typ IV, kurz auch nach dem englischen Akronym CIPA bezeichnet. CIPA ist eine seltene, vererbbare Krankheit, der eine Mutation eines Gens zugrunde liegt. Eben jener Gendefekt bewirkt bei den Patienten eine Unfähigkeit Schmerzen zu empfinden. Kurz gesagt: es gibt weltweit eine handvoll Menschen, die keine Schmerzen spüren. Herrlich. Barfuß auf einen Lego-Stein treten und einfach weiter gehen. Mit dem kleinen Zeh gegen den Couchtisch stoßen und einfach locker weitermachen.

Die Hand auf die heiße Herdplatte legen und erst bemerken, dass sie eingeschalten ist, wenn man sein eigenes, verbranntes Fleisch riecht. Stürzen und erst merken, dass etwas gebrochen ist, weil der Knochen blutig aus dem Fuß ragt. Herrlich?

 

Dass wir Schmerzen empfinden ist gesund. Es ist ein Schutzmechanismus des Körpers, der anzeigt, dass etwas genug oder gar zuviel war. Wir brauchen Schmerzen. Sie zeigen uns, wo unsere Grenzen sind.

 

Und ganz dasselbe gilt für unsere Psyche. Wie schön wäre es niemals im Leben an Liebeskummer zu leiden. Niemals zu trauern, Verluste und Niederschläge einfach zu vergessen. Keine Träne zu vergießen, wenn uns etwas verletzt und zerstört. Ob wir glücklich wären?

 

Im Laufe des Lebens passieren so viele Dinge, die uns Schmerzen bereiten. Dinge, die wir vielleicht niemals verstehen werden, für die es manchmal nichtmal einen Grund gibt. Aber sie passieren. Und alles was wir davon haben, ist jede Menge Schmerz. Gebrochene Herzen, verlorener Mut, zerstörte Träume. Und dieses unerklärliche Gefühl, das sich über den ganzen Körper ausbreitet und an dem wir am liebsten sterben würden. Manchmal ist die Tatsache, dass wir fühlen, so katastrophal und nicht zum Aushalten, dass wir uns wünschten, wir könnten alle an CIPA für die Seele leiden.

 

Aber Tatsache ist, dass wir es nunmal tun. Wir fühlen. Wir spüren. Wir empfinden. Und zwar jede Form von Schmerz, die es gibt. Verlorene-Liebe-Schmerz, tragischer-Verlust-Schmerz, das-Leben-ist-unfair-Schmerz, Verlassen-werden-Schmerz, ich-verstehe-nicht-Warum-Schmerz, Lego-Stein-Schmerz, Couchtisch-Schmerz und alle anderen tausend Arten von Schmerz, die wir uns nur vorstellen können. Und auch wenn wir es in dem Moment, in dem wir es fühlen, niemals glauben können: es ist gesund. Schmerz bringt uns dazu, uns zu verarzten, unsere Wunden zu versorgen und zu heilen. Er bringt uns dazu nachzudenken, wie es so weit kommen konnte und Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um nicht nochmal so leiden zu müssen. Wir stehen also auf, räumen das Lego weg, verrücken den Couchtisch und beginnen zu verstehen, dass Herz-Schmerz nunmal dazu gehört, dass Verlassen-werden-Schmerz die Gefahr einer jeden Beziehung ist und das-Leben-ist-unfair-Schmerz uns niemals daran hindern sollte, dem Leben zu zeigen, dass wir es besiegen können. Mit Glück und Zufriedenheit, mit Freude und Leidenschaft.

 

Wir genesen. Wir heilen. Wir wachsen daran. Wir brauchen kein CIPA, um uns wohl zu fühlen. Es geht darum aus dem Schmerz etwas zu machen, daraus zu lernen. Die Fehler der Vergangenheit als Maßstab für die Schmerzgrenze anzusetzen und ständig gefasst sein, die Grenze nach oben zu verschieben.

 

Es ist gesund, obwohl es völlig wahnsinnig und absolut verrückt klingt. Es ist gesund zu leiden. Für uns. Für dich persönlich. Du kannst daran nur wachsen. Schmerz ist es, das uns weiter bringt. Ein völlig wahnsinniges Konzept des Lebens. Erst leiden, dann verzeihen. Vielleicht sind das die Wegweiser zum Glück.

 

Vielleicht mögen wir ja den Schmerz. Vielleicht sind wir Menschen von Natur aus so. Denn ohne Schmerz, ich weiß nicht, würden wir uns vielleicht nicht wirklich spüren. Wie sagt man da noch? "Warum haue ich mir ständig mit 'nem Hammer auf den Kopf? Weil es so schön ist, wenn der Schmerz nachlässt."

Grey's Anatomy

 

Für Carmen und Silke.