Mehr sein.

Manchmal überkommt es uns. Manchmal wird uns plötzlich bewusst, dass nichts so viele Facetten hat wie die Liebe. Nichts hat so viele Gestalten, so viel Bedeutung, so viele Ansichten und Meinungen. Nichts ist vielseitiger oder von mehr Seiten zu betrachten. Jeder von uns hat einen anderen Zugang dazu, in jedem von uns löst es ganz eigene, einzigartige Ängste und Bedenken aus. Nichts kann uns solche Sorgen machen, uns so verzweifeln lassen. Nichts weckt in uns mehr Sehnsucht. Nichts macht uns auch nur annähernd so wütend oder aggressiv. Wegen nichts auf der Welt haben wir jemals mehr Tränen vergossen.

 

Sie ist es, die uns bereuen lässt, erschaudern. Sie lässt uns singen und tanzen und im nächsten Moment zusammenbrechen und zaudern. Es ist die Liebe, um die sich unser Leben dreht - ganz egal ob wir es uns eingestehen können oder versuchen es zu überspielen. Wir sind aus Liebe entstanden. Und unser größtes Ziel ist, alles was wir tun mit und aus Liebe zu tun. Dabei ist es völlig nichtig, ob es dabei um unsere Beziehungen, Freundschaften, Familie, Hobbys oder den Job geht - wir versuchen zu lieben: das Leben, uns selbst, was wir tun, wie wir unsere kurze Zeit verbringen.

 

Es gibt Millionen und Abermillionen Lieder und Gedichte, Texte, Geschichten und Bücher darüber. Milliarden an Wörtern, die versuchen etwas zu beschreiben, das so unbegreiflich und doch völlig klar ist. Liebe ist so vieles - und kann alles mögliche sein. Niemand erlebt es wie ein anderer, niemand fühlt es wie ein anderer. Jeder hat seine eigenen Regeln dafür, Grenzen, Vorgehensweisen - es ist absolut unmöglich dieses riesige Konstrukt, das uns alle umgibt und aus dem wir alle bestehen, auch nur annähernd zu erfassen. Es ist faszinierend, einzigartig. Völlig unbegreiflich, irrsinnig, wahnsinnig, schwachsinnig, ... es ist Liebe.

 

Die Biochemie definiert Liebe als einen Vorgang im Gehirn, der eine Ausschüttung von Dopamin und Adrenalin, Endorphinen und Cortisol zur Folge hat und uns in einen rauschartigen Zustand versetzt. Wir empfinden dabei Euphorie, Aufregung und tiefes Wohlbefinden, sowie sexuelle Lust. Liebe ist also nichts weiter als eine Reihe biochemischer Vorgänge im Gehirn. Nüchtern betrachtet ist es also völlig verzichtbar verliebt zu sein oder Liebe zu empfinden - ist sie doch nur bedingt eine Basisemotion wie Angst, Ekel, Zorn oder Neugierde. Und trotzdem tun wir es: wir suchen nach Liebe. Wir möchten gemeinsam sein, möchten etwas teilen, möchten Erinnerungen schaffen, etwas haben, nach dem wir Sehnsucht haben können.

 

Wer es abstreitet hat resigniert oder ist einfach nicht bereit. Es geht darum zu lieben. Ganz egal wie man Liebe für sich definiert, ganz egal womit oder mit wem man es verbindet. Liebe soll dein Leben verschönern, es aufregend machen, voranbringen. Sie kann dich zum Lächeln bringen und nachts seelig schlafen lassen, kann dir das Gefühl von tiefer Zufriedenheit und Ruhe geben, dich berauschen und begeistern. Es geht nicht darum wie alle anderen es sehen, es geht darum wie du es siehst. Was dich glücklich macht. Wie du eine bessere Version von dir selbst werden kannst. Das ist Liebe.

 

Vielleicht sollten wir aufhören nach links und rechts zu swipen, aufhören Likes zu verteilen und Matches zu sammeln, aufhören Menschen nach Profilbildern zu beurteilen. Vielleicht geht es darum einander mit Liebe und Respekt entgegen zu treten und sich überraschen zu lassen was alles passieren kann. Vielleicht ist Liebe nicht die richtige Haarfarbe oder die perfekte Figur, vielleicht ist es so viel mehr als das, was wir erwarten. Vielleicht sollten wir aufhören Bedingungen zu stellen und uns zuhören und verstehen, dass Liebe so viel mehr ist als alles, das wir kennen.

 

 

 

Manchmal überkommt es mich. Es ist kein Zufall, dass Leben und Lieben aus den selben Buchstaben bestehen. Es geht darum beides in Einklang zu bringen. Sich vor der Welt zu verschließen hat noch niemanden weitergebracht. Es geht darum zu lieben und verletzt zu werden. Zu leiden, zu verzagen, die Wunden zu heilen und neu anzufangen. Es geht darum zu lernen und weiterzukommen. Es geht darum die Liebe nicht als Grund für all das Leid zu sehen, sondern als Motivation. Niemand kann die Liebe oder das Leben verstehen, aber wir können versuchen uns zu verstehen. Und wie könnten wir uns jemals kennenlernen, hätten wir uns nicht in den schlimmsten Situationen wiedergefunden, den tragischsten Momenten, den dunkelsten Augenblicken. Liebe bringt uns an unsere Grenzen, führt uns darüber hinaus und lässt uns über uns hinauswachsen. Niemals sind wir so sehr wir selbst, als in unseren traurigsten Minuten, unseren verzweifelsten Situationen. Und niemals hätten wir diese erlebt, würden wir nicht lieben.

 

Darum geht es. Um die Suche nach etwas, das uns zerstören wird. Und nichts ist so schön, als von der Liebe zerstört zu werden. Allein die Gewissheit, dass wir fähig sind zu lieben, macht uns doch zu Menschen.  Zu fühlenden Individuen, die versuchen mehr zu sein als ihre bloßen Basisemotionen. Und vielleicht ist das der Grundgedanke des Lebens: mehr zu sein.

 

Die Suche ist das, was uns vorantreibt.

Und die Tatsache, dass wir niemals fündig werden ist das,

was uns zerbricht.

(Schatten der Schläfer)

 

 

 

 

 

für Thomas F.

und Judith